Der Fluch von Krakau

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Mein Auf­wärm­pro­gramm?“ Ich ahn­te es, seit ich lau­fe: Irgend­wann steht irgend­je­mand vor mir und fragt nach mei­ner Mara­thon­vor­be­rei­tung. Doch irgend­wie hat­te ich mir das anders vor­ge­stellt: Ehrfürchtiger.

Mara­thon lau­fen ist eigent­lich nichts Beson­de­res. Stän­dig begeg­ne ich Leu­ten, die mir, sobald sie etwas von mei­nem Lauf­le­ben erfah­ren hat­ten, von ihrem Lauf­le­ben berich­ten. Meis­tens sind es Män­ner, eigent­lich immer, und meis­tens, eigent­lich immer, lie­fen sie den Mara­thon unter vier Stun­den fünf­zehn. Und meis­tens, eigent­lich immer, fan­den sie, dass das nicht der Rede wert sei.

Ich konn­te dann nie umhin, ihnen dar­zu­le­gen, dass mei­ne Mara­thon­läu­fe durch­weg über eine Stun­de län­ger dau­er­ten. Dann war ich der Genie­ßer, der wohl zwi­schen­durch mal schnell auf ein Bier­chen ver­schwin­det oder den Damen auf den Hin­tern schielt, statt ernst­haft zu laufen.

Dies­mal begann es nicht viel anders. Ich hat­te mich mit Kaf­fee­ast in einem Erfur­ter Stra­ßen­ca­fé fest­ge­setzt und in einem ange­sag­ten Lauf­ma­ga­zin geschmökert.

Frei?“, „Hm.“, „Du läufst?“, „Hm.“

Gut, zunächst war ich schon etwas geschweif­we­delt. Doch bereits nach kur­zer Zeit hat­te mein Gegen­über auf „Basics des Lauf­trai­nings“ umgeschaltet.

Jochen, wie er sich nann­te, war ca. 40 Jah­re. Er maß in etwa eins sieb­zig. Sei­ne Augen­braue reich­te von der lin­ken bis zur rech­ten Schlä­fe. Ein schma­ler raben­schwar­zer Pelz. Dar­über stemm­te sich eine glän­zen­de wuch­ti­ge Stirn und dar­un­ter zuck­ten klei­ne dun­kel­brau­ne Augen. Auf sein Gewicht brauch­te man ihn nicht anzu­spre­chen, er hät­te nur erha­ben über die Fra­ge geschmunzelt.

Wäh­rend Jochen gera­de über die Erman­ge­lung mei­nes Auf­wärm­pro­gramms lamen­tier­te, hat­te ich ihn ins Wort redend erklärt, dass ich es nicht für eine Schan­de hiel­te, wenn man einen Teil der Stre­cke gehen würde.

Kurz­zei­tig hat­te ich den Ein­druck, er wür­de mich in den Todes­trakt von Texas wün­schen. Doch er ent­schied sich anders. Er hat­te sich mit dem Zei­ge­fin­ger vor­an über den Tisch gebeugt:

Du, ich will dir mal eins sagen!“

Und das mach­te er aus­führ­lich. Jochen war pas­sio­nier­ter Mara­thon­läu­fer. Frü­her lief er regel­mä­ßig, zur­zeit muss­te er jedoch sei­ne Lei­den­schaft aus beruf­li­chen Grün­den hint­an­stel­len. Er hat­te alle gro­ßen Volks­läu­fe in Deutsch­land und eini­ge in den benach­bar­ten Län­dern bestrit­ten. Sei­ne Best­zeit 3:57:32 2011 in Rom.

Jochen sag­te, er wis­se was Quä­le­rei heißt, doch auf­ge­ben wäre für ihn nie eine Opti­on gewe­sen, und zwi­schen­zeit­li­ches Gehen sei schließ­lich nichts anderes.

Wäh­rend mei­ne Lauf­leis­tun­gen sonst mit groß­mü­ti­gem Lächeln bedacht wur­den, sprach mir Jochen alle Mara­thoneh­ren ab. Letzt­end­lich sol­le ich es ihm nicht ver­übeln, aber es sei doch Anma­ßung, wenn nicht sogar Betrug, lau­fen und gehen zu ver­men­gen, nur um sich als Mara­thon­fi­nis­her zu brüs­ten. Ich sol­le doch ein­mal an all die ehr­li­chen Durch­läu­fer den­ken, die über Mona­te hin­weg mehr­mals die Woche hart trai­nie­ren, um sich im Lauf­schritt über die berühm­te Distanz zu quälen.

Kurz sin­nier­te ich dar­über, ob ich nun, des Rege­ne­ra­ti­ons­do­pings über­führt, mei­ne Finis­her-Medail­len zurück­ge­ben sollte.

Mara­thon­wunsch­wet­ter. In der Nacht hat­te es aus­gie­big gereg­net. Kla­re Luft. Ca. 12 Grad. Leich­ter Wind. Die Kulis­se ein Träum­chen. Wir hat­ten den Kra­kau­er Markt gequert und lie­fen am Schloss vor­bei die Grodzka ent­lang. Wir schwatz­ten hin und wie­der, guck­ten und liefen.

André hat­te mich in den Wind­schat­ten genom­men. Fei­ne Ges­te, obwohl … Gut, wir hat­te das Meis­te noch vor uns und André war mir gegen­über kon­sti­tu­tio­nell und kon­di­tio­nell im Vor­teil. Fünf­zehn Kilo Dif­fe­renz. Fragen?

Seit Beginn hat­ten wir die 4:30-Hasen in Sicht­wei­te, wobei sie sich lang­sam aus unse­rem Blick­feld ent­fern­ten. Unbe­ach­tet. Bei Kilo­me­ter sech­zehn irgend­was kam uns ein Läu­fer ent­ge­gen. Hand­zei­chen aus Rou­ti­ne. Wir  waren in Jog­ging­stim­mung. (Es han­del­te sich um Patryk Nian­ge­ro, den Gewin­ner des Cra­co­via Mara­tons 2013.) Doch lang­sam mach­te sich Ver­druss bei mir bemerkbar.

Wir trab­ten die Ale­ja Poko­ju ent­lang, eine der klas­si­schen urba­nen Magis­tra­len, die die Kra­kau­er Innen­stadt mit dem Plat­ten­bau­ge­biet Nowa Huta ver­bin­det. Auf der Gegen­rich­tung kam uns das Haupt­feld ent­ge­gen. Der Wen­de­punk­te war außer Sicht­wei­te und wir konn­ten weit sehen, sehr weit. Es ging leicht berg­ab. Kilo­me­ter 21 habe ich nicht regis­triert, dafür das Vor­bei­hu­schen der 4:45-Hasen und das Vor­bei­hu­schen der Fünf-Stun­den-Hasen und Andrés skep­ti­schen Blick.

Schlech­te Stim­mung, mie­se Lau­ne, Wut und Frust sind nicht ange­sagt. Betrof­fen­heit hin­ge­gen löst bei den Mit­men­schen weni­ger Unbe­ha­gen aus. Ins­be­son­de­re, wenn sie mit einem geblüm­ten Lächeln ein­her­geht. Und so schön­re­den und dau­er­grin­sen sich vie­le durchs Leben, ein­ver­nehm­lich, nach­sich­tig und gedul­dig. Ich neh­me mich da nicht raus. Anpassungsdruck.

Doch ich habe mei­ne Pha­sen, da grollt es in mir so hef­tig, dass ich es trotz erheb­li­cher Anstren­gun­gen nicht zurück­hal­ten kann. Mit­un­ter brach mein Unmut auch in harm­lo­sen Situa­tio­nen her­vor. Die Emp­fän­ger muss­ten dann für Frust her­hal­ten, der ihnen gar nicht zustand.

So oder ähn­lich geht es jedoch vie­len Mit­men­schen. Zumin­dest situa­tiv. Die sozia­len Bezie­hun­gen sind in den wenigs­ten Fäl­len so wider­stands­fä­hig, dass sie Der­ar­ti­ges unbe­scha­det über­ste­hen. Vor allem im Wiederholungsfall.

Die Benimm-Indus­trie hat sich der Sache ange­nom­men und belie­fert die sozi­al Unan­ge­pass­ten mit Rat­schlag­li­te­ra­tur, Super­vi­sio­nen und Men­tal-Coa­ching. Auch Lau­fen hat den Nim­bus, Ärger und Wut abzubauen.

Es kommt wohl drauf an. Ich hat­te mich schon mehr­fach bei diver­sen Anzei­chen — z. B. Herz­ra­sen, Blut­hoch­druck, vor­ge­scho­be­ner Unter­kie­fer, schwei­ßi­ge Hän­de — für ein Läuf­chen ent­schie­den. Doch nicht immer war es damit aus der Welt.

Ich hat­te Jochen kurz dar­auf ver­wie­sen, dass mich sei­ne Ein­stel­lung trotz der im Ansatz nach­voll­zieh­ba­ren Argu­men­te krän­ken wür­de, und dass ich das Gespräch nun nicht mehr wei­ter fort­füh­ren wol­le. Dann hat­te ich der Kell­ne­rin ein Zei­chen gege­ben, um zu zah­len. Als ich auf die Stra­ße trat, begann es zu regnen.

Ich hat­te André ange­deu­tet, dass ich mit hef­ti­gen Miss­stim­mun­gen zu kämp­fen hät­te, und dass er mich fort­an allein lau­fen las­sen möge. Es dau­er­te eine Wei­le, bis er ein­wil­lig­te und sich der Fünf-Stun­den-Hasen annahm. Am nächs­ten Ver­sor­gungs­stand stopf­te ich mir eine Hand­voll Scho­ko­la­den­bruch in den Mund. Mir wur­de übel.

Ich hat­te ver­ges­sen zu erwäh­nen, dass ich Jochen, nach­dem er sein Pam­phlet zur Ehren­ret­tung der recht­schaf­fe­nen Mara­tho­nis been­det hat­te, anraunz­te, dass er sich sei­ne Durch­lauf­ideo­lo­gie inklu­si­ve Auf­wärm­pro­gramm rek­tal ein­füh­ren könne.

Ich hat­te ver­nach­läs­sigt, dar­auf hin­zu­wei­sen, dass ich auf dem Weg nach Nova Huta zuneh­mend vor mich hin maul­te. Als eini­ge Meter vor uns ein Läu­fer die Absper­rung über­wand und das Ren­nen ca. 10 km abkür­zend in Gegen­rich­tung fort­führ­te, konn­te ich einen Moment lang nicht mehr an mich hal­ten. Der Bur­sche wur­de für mich zum Sinn­bild des zivi­len Unge­hor­sams. Er scher­te sich nicht um Kon­ven­tio­nen, er lief sei­nen Mara­thon und der hat­te eben genau an jener Stel­le ein Wurmloch.

Im Inter­net dis­ku­tie­ren User dar­über, ob Läu­fer bes­se­re Men­schen sind oder nicht. Ange­sichts der andau­ern­den Beweih­räu­che­rung über bewuss­te­res Leben, gesun­den Ehr­geiz, gestei­ger­te Wider­stands­fä­hig­keit und Potenz, ewi­ge Jugend, gutes Aus­se­hen etc. pp. kann es dem Lau­fen­den schon mal zu Kopf stei­gen, vor allem, wenn er sich gera­de in einen Rausch gerannt hat. Die „Män­ner­ge­sund­heit“ setzt noch eins drauf und bewer­tet lau­fen­de Chefs als die besseren.

Das stinkt doch nach Mar­ke­ting­stra­te­gie. Läu­fer aller Cou­leur wer­den in einen Topf gewor­fen. Dort wer­den sie abwech­selnd mit Lob­hu­de­lei­en gestrei­chelt und mit mach­ba­rer Leis­tungs­op­ti­mie­rung gereizt. Mit Scheu­klap­pen aus Eli­tel­au­f­e­quip­ment, Trai­nings­plä­nen und Es-geht-noch-schnel­ler-Zei­ten ren­nen sie dann an der Gren­ze zur Selbst­über­schät­zung durch die Gegend. Zumeist jedoch im Kreis. Und damit alle bei der Stan­ge blei­ben, wer­den fort­wäh­rend irgend­wo Mas­sen­lauf­pro­zes­sio­nen ver­an­stal­tet, die gan­ze Städ­te lahm legen.

Beim Erfur­ter Nacht­lauf zum Bei­spiel sieht man tau­sen­de Frau­en und Män­ner in oran­ge-wei­ßen Funk­ti­ons­shirts mit Spon­so­ren­auf­druck ein‑, zwei­mal um den Dom hasten.

Borgs? Schlim­mer! Sie las­sen sich die Assi­mi­la­ti­on bezah­len. 20 bzw. 25 Euro kos­tet der Spaß. Auch ich war Mit­läu­fer. Zwei­mal schon!

Bes­se­re Men­schen? Bes­se­re Chefs? Bes­se­re Kon­su­men­ten? Da möch­te man doch dazu gehören!

Dass es an Ver­pfle­gungs­stel­len aus­rei­chend Scho­ko­la­de gibt, recht­fer­tigt kei­ne cho­le­ri­sche Atta­cke. Genau­so wenig wie Früh­lings­son­nen­schein, leich­ter Rücken­wind, applau­die­ren­de Zuschau­er und ermun­tern­de Mit­läu­fer. Zwei­fels­oh­ne, ich hat­te die Fluch­pha­se erreicht.

Damit kei­ne Miss­ver­ständ­nis­se auf­kom­men, ich fin­de Warm­lau­fen und der­glei­chen schon wich­tig. Es muss halt pas­sen. Mei­ne län­ge­ren Läu­fe sind jedoch so ange­legt, dass ich ins Ziel kom­me. Aus dem letz­ten Loch zu pfei­fen, ver­drießt mich dabei nicht wei­ter. Das ist Stan­dard bei meinesgleichen.

Ein kräf­te­zeh­ren­des Auf­wärm­trai­ning, inklu­si­ve Stret­ching und Ham­pel­mann, fin­de ich des­halb für mein Lauf­le­vel über­zo­gen. Und Warm­lau­fen ist kräf­te­zeh­rend, kör­per­lich wie nerv­lich. Für mich ist vor dem Start Ruhe ange­sagt, viel­leicht ein Toi­let­ten­gang, ansons­ten Ruhe.

Den­noch gehe ich nicht unbe­dacht ins Ren­nen. Natür­lich soll­te man sei­ne Kräf­te ein­tei­len. Ent­schei­dend für den Aus­gang eines Laufs ist es aber auch, dass man sich auf die Stim­mungs­wech­sel ein­stellt. Was man sich anfangs von der See­le rennt, kann einen spä­ter mit Wucht aufs Gemüt schlagen.

Wäh­rend mei­ner Läu­fe unter­schei­de ich mehr oder min­der fünf Pha­sen. Das ers­te Fünf­tel der Stre­cke ent­spricht in etwa der Ein­lauf­pha­se. Das ist mein Warm-up. Wenn die Bei­ne rund­lau­fen und die Schweiß­ab­son­de­rung erträg­lich wird, folgt die Spaß­pha­se, die etwa zwei Fünf­tel der Stre­cke umfasst. Vor allem zum Ende die­ser Pha­se kön­nen Hoch- und Über­mut auf­tre­ten. Aber das gibt sich meis­tens. Zunächst zumindest.

Dann, mit nach­las­sen­der Kon­di­ti­on und diver­sen Lei­den, setzt die Fluch­pha­se ein, oft­mals beglei­tet durch lau­tes bizar­res Gebrab­bel und stoß­wei­ses Brül­len. Bei bes­se­rem Trai­nings­zu­stand ver­grimmt sich der Frust ins Inne­re, ver­stoff­wech­selt sich irgend­wo und wird aus­ge­schwitzt. Wenn’s arg kommt, dau­ert die Fluch­pha­se bis zum Ende des Ren­nens. Arg kommt es jedoch nur sel­ten, zumeist ver­pufft der Groll mit der Zeit und geht in die Ziel­pha­se über. „Ziel­pha­se“ ist ein wenig irre­füh­rend, denn sie reicht über das Ziel hin­aus. Wesent­lich ist hier­bei die ver­mehr­te Endor­phin­aus­schüt­tung. Bei aller Freu­de, Vor­sicht bei Ver­spre­chun­gen und Geschenken!

Wen­de­punkt! Ich lief wie­der Rich­tung Kra­kau­er Alt­stadt, das heißt ich ging.

Mitt­ler­wei­le war ich gute vier Stun­den unter­wegs. Nach­dem André davon­ge­zo­gen war, hat­te ich Zeit zum Grü­beln. Es war kein ego­zen­tri­sches Welt­schmerz­ge­heu­le, das mich befiel, son­dern Frust­grü­be­lei. Die Fluch­pha­se halt.

Anfangs war ich geneigt, zum Rund­um­schlag aus­zu­ho­len. Doch irgend­was hielt mich ab. Viel­leicht tröp­fel­ten ja schon die Endor­phi­ne durch mei­ne Syn­ap­sen. Viel­leicht waren es ja auch die Bedin­gun­gen: Scho­ko­la­de, Son­ne, Rücken­wind und all die gut­ge­laun­ten Weg­ge­fähr­ten. Und natür­lich die wohl­wol­len­den Zuschau­er, selbst nach über vier Stun­den trö­te­ten und jubel­ten noch Leu­te am Straßenrand.

Viel­leicht, ach quatsch viel­leicht, ich ging nur bewuss­ter ran, öko­no­mi­scher. War­um die Frust­ener­gie ver­geu­den wie Breit­band­an­ti­bio­ti­ka? Letzt­end­lich las­sen sich nur die Dünn­häu­ti­gen ver­grau­len. Das Grob­zeug lässt sich davon kaum beein­dru­cken. Außer­dem, wenn alle was abbe­kom­men ohne Unter­schied, dann macht man auch kei­nen Unterschied.

Ich bin nicht André. André ist nicht Jochen. Wäh­rend es mei­ner Mara­thon­be­fä­hi­gung an all­ge­mei­ner Aner­ken­nung man­gelt, läuft André unter 4 Stun­den 15. Wobei er in Kra­kau dar­auf pfiff. Er hat­te die Rol­le des  Schritt­ma­chers und Was­ser­trä­gers über­nom­men. Es gibt Men­schen, die machen so was, ohne dar­über nach­zu­den­ken. Jochen hin­ge­gen? Jochen?

Am 14. April 2013 explo­dier­ten im Ziel­be­reich des Bos­ton-Mara­thons zwei Bom­ben. Ver­letz­te. Tote. Hin­ter­blie­be­ne. Angst. Trau­er. Ohn­macht. Die Bil­der gin­gen durch die Medien.

Die Täter wur­den schnell gefun­den. Ein Gutes? Für wen?

Welt­weit hat­te der Anschlag Wut und Ent­set­zen aus­ge­löst, aber auch Furcht vor wei­te­ren Anschlä­gen bei künf­ti­gen Sport­er­eig­nis­sen. Die Orga­ni­sa­to­ren hie­si­ger Lauf­ver­an­stal­tun­gen reagier­ten. Sicher­heits­kon­zep­te wur­den über­dacht und über­ar­bei­tet. Obwohl jeder weiß, dass Sicher­heit trü­ge­risch ist.

Auch die Läu­fer soli­da­ri­sier­ten sich mit Opfern und Hin­ter­blie­be­nen. Bekennt­nis­se wur­de ver­öf­fent­licht, Gedenk­mi­nu­ten gehal­ten und Arm­bin­den in den Far­ben des Bos­ton-Mara­thons getragen.

Eini­ge Zuschau­er brüll­ten zu mir rüber, ande­re zeig­ten lachend mit dem Fin­ger nach mir. Ein Hund kläff­te mich an. Die Läu­fer in mei­ner Nähe grins­ten alle­samt. Ich hat­te einen Schrei aus­ge­sto­ßen, tarzanlike.

Die Namen der Atten­tä­ter von Bos­ton waren mir ein­ge­fal­len. In Gedan­ken sah ich ihre Gesich­ter. Von den Opfern wuss­te ich nichts.

In der Pres­se skan­dier­ten sie, dass fort­an die Angst mit­lau­fe. Ich ging in Leip­zig an den Start. Doch nie­mand in mei­ner Nähe zeig­te Ängst­lich­keit oder Beden­ken bezüg­lich eines Anschlags. Es han­del­te sich dabei aber weder um selbst­ge­fäl­li­ge Igno­ran­ten noch um mit­leid­lo­se Hasar­deu­re. Auch unter ihnen tru­gen eini­ge schwar­ze bzw. blau-gel­be Arm­bin­den, um ihr Mit­ge­fühl mit den Opfern des Bos­ton-Mara­thons zu bekun­den. Ansons­ten demons­trier­ten sie jedoch Freu­de und Span­nung und Leidenschaft.

Ich sah das so! Ich ver­stand das so! Die Wahr­neh­mung ist sub­jek­tiv. Die Pres­se ist unab­hän­gig. Sicher­heit ist trü­ge­risch. Ich hat­te kei­ne Angst, dass etwas pas­sie­ren könn­te. Ich ken­ne auch nie­mand, der des­we­gen einen Lauf absag­te. Bos­ton liegt auf der ande­ren Sei­te der Welt.

Mit dem Schrei begann ich wie­der zu lau­fen. Auch in Kra­kau wird es kei­nen Anschlag geben. Trotz­dem hat­te ich plötz­lich Angst. Ich muss­te an Köln, Dort­mund, Nürn­berg, Kas­sel, Mün­chen, Ros­tock und Heil­bronn den­ken. Die Namen der Atten­tä­ter fie­len mir ein. Ich sah ihre Augen und all die Bil­der, die durch die Medi­en gin­gen. Die Opfer waren mir fremd.

Für einen Moment hat­te ich Angst. In Polen. Vor Nazis. In Deutsch­land. Einen Schrei, einen Fluch hat­te ich aus­ge­sto­ßen. Die Men­schen um mich her­um hat­ten gelacht. Das mach­te es leichter.

Ich hat­te das Ufer der Weich­sel erreicht. Noch sie­ben Kilo­me­ter, eine knap­pe Stun­de also. Um die Füße vor dem Asphalt zu scho­nen, lief ich neben dem Rad­weg. Unter­halb von Fes­tung und Dra­chen­höh­le hat­ten sich Kin­der in einer Rei­he auf­ge­stellt, die uns Läu­fern ihre Hän­de zum Abklat­schen ent­ge­gen­streck­ten. Spa­zier­gän­ger blie­ben ste­hen, um uns vor­bei zu las­sen. Von einem Aus­flugs­damp­fer wink­ten die Gäs­te. Laub­bäu­me und Strom­mas­ten. Ein leich­ter erfri­schen­der Wind blies mir über die Weich­sel entgegen.

Läu­fer sind kei­ne bes­se­ren Men­schen. Doch die Dis­kus­si­on dar­über impli­ziert auch die Mög­lich­keit einer Fehl­ein­schät­zung. Zugleich ver­leiht die Äuße­rung ihren Ver­tre­tern Weit­sicht und Erha­ben­heit. Viel­leicht kochen wir des­halb den Sud immer wie­der auf.

Ich unter­drü­cke die Selbst­aus­kunft. Das Gewis­sen ist trü­ge­risch. Das Maß aller Din­ge sowie­so. Ich ken­ne die Täter. Von den Opfern weiß ich so gut wie nichts.

Angst. Scham. Ich flu­che. Ich weiß, dass ich bis zum Ziel durch­lau­fen wer­de. Ich weiß, war­um ich mich nicht an die Opfer erin­ne­re. Es ist so ein­fach. Ich bin wütend. Ich lau­fe. Das befreit.

Ich war in die gro­ße Run­de um das Kra­kau­er Sta­di­on ein­ge­bo­gen. Die Zuschau­er an den Stra­ßen­rän­dern applau­dier­ten und wink­ten. Im Ziel­be­reich war­te­ten  Anne, André, Maria, Sven und die pol­ni­schen Freun­de. Sie hat­ten mich zuerst gese­hen. Ihr Gekrei­sche trug mich durchs Ziel.

Ich hat­te das Gefühl etwas Gro­ßes voll­bracht zu haben. Jochen kam mir in den Sinn. Mit­tel­fin­ger! Die Endor­phi­ne mach­ten gan­ze Arbeit.

Lauf­ver­an­stal­tun­gen erle­be ich immer wie­der als gewalt­lo­ses, ver­bin­den­des und welt­of­fe­nes Hap­pe­ning. Da jauchzt mei­ne Blu­men­kin­der­see­le. Ich kann ein­fach nicht davon las­sen. Die Geschäf­te­ma­cher auch nicht.

Es gibt kein rich­ti­ges Leben im fal­schen. Der rote Faden liegt nicht all­zu tief. Man muss nur graben.

Beim Erfur­ter Nacht­lauf wer­de ich wie­der dabei sein. Das oran­ge-wei­ße Funk­ti­ons­läpp­chen wer­de ich mir jedoch nicht über­strei­fen. Mei­ne Wer­be­brust ver­mark­te ich sel­ber. Start­geld gibt es auch nicht von mir. Das spen­de ich „lau­fendhel­fen“. Und wenn sich jemand mokiert, das ist nur das Aufwärmprogramm!

Ziel­pha­se? Wohl nicht aufgepasst?

Fotos: Sven Wachsmuth

Dieser Beitrag hat 2 Kommentare

  1. Micha

    Ein schö­ner Lauf­be­richt! Ich kann gut nach­voll­zie­hen was einem so alles vor, wäh­rend und mit Abstand nach einen “gro­ßen” Lauf im Kopf für Bil­der ablau­fen und was einen immer wie­der für The­men beschäf­ti­gen. Hoch­ach­tung vor der sport­li­chen und lite­ra­ri­schen Leistung.
    Freue mich schon heu­te auf einen neu­en Artikel.

    Dein und nicht nur Lauf­freund aus Altglienicke.
    Micha

  2. sven erlewein

    … und Mann ist mit dabei. Es ist eine ehr­li­che Schil­de­rung der eige­nen Erleb­nis­se, Gefüh­le und Ein­drü­cke auf einem hohen Niveau schrif­ti­cher Aus­drucks­form. Und Jochen kann nur sagen: Sor­ry, kein Respekt vor einer nicht Jeder­mann sport­li­chen Leis­tung, des­halb bist Du raus! 

    Sven

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