Das war’s mit 2012! Knall. Bum. Vorbei. Die Platitude von der Flüchtigkeit unserer Vorsätze und Erwartungen wurde erwartungsgemäß bestätigt. Der Alltag wäre nicht der Alltag, wenn er uns nicht zeigen würde, wo der Jammer hängt.
Das Auslaufen des Mayakalenders zum 21. Dezember 2012 versprach zunächst ein wenig Aufregung. Die üblichen Verdächtigen hatten das Thema übers Jahr in gewohnter Weise aufgegriffen. Naturkatastrophen, Bürgerkriege und menschliche Tragödien spielten den Eiferern dabei in die Hände. Doch irgendwie schienen die Verheißungen vom Weltuntergang die Zielgruppe nicht zu erreichen. Weitgehend wurde diesbezüglich angenehme Gelassenheit demonstriert. Da hatten sich gewiss einige der Propheten mehr in die Taschen erhofft. Die Leute hatten eben andere Probleme.
Vielleicht lag es ja auch am Termin. In der Advents- bzw. Weihnachtszeit sind die menschlichen Aufmerksamkeiten traditionell ausgebucht. Egal, die Weltuntergangsstimmungsmache war erwartungsgemäß am vorausberechneten Tag des Weltuntergangs verstummt – wie immer – die vier Kerzen brannten, und, Heilige Nacht, die apokalyptischen Vier sitzen weiterhin auf dem hohen Ross.
Da passt es schon irgendwie dazu, dass sich ein bayrischer Eventmanager als Eigner des Wortes „Weltuntergang“ beim Deutschen Patentamt eintragen ließ und nun andere Veranstalter von Weltuntergangspartys auf Schadenersatz verklagt (dpa). Es kann nur einen geben. Knall. Bum.
2013 wird’s wohl nicht viel anders. Soziale Strukturen und individuelle Verhaltensmuster sind gegenüber guten Vorsätzen enorm widerstandsfähig. Auch Laotse-Sprüche oder Gute-Nacht-Gebete sind da keine brauchbaren Verstärker. Was soll’s, freuen wir uns des Alltags!
Zwei Seelen wohnen, ach! In meiner Brust. Oder drei? Oder vier?
Zynisches Lamento ist eigentlich nicht meins. Aber die Alltagskeule erwischt auch mich regelmäßig. Meist kann ich die Schläge abwehren, zumindest bilde ich mir das ein, doch hin und wieder haut es mich aus den Socken. Da ist dann auch mein optimistisches Weltbild am Wackeln. Nichts für ungut, ich habe das im Griff. Die meiste Zeit denke ich positiv über die Zukunft, die Menschen und mich. Glaubt mir, ich lebe gern!
Der Zyniker in mir führt das auf Realitätsverlust oder Wahrnehmungsfehler zurück. Mein positivistisches Ego spricht wiederum vom richtigen Denken. Auch der Besserwisser mit der arglosen Vorstellung, dass in allem ein Fünkchen Wahrheit steckt, ist ein aufdringlicher naher Verwandter meines Über-Ichs.
Und genau hier wurzelt meine Schrulle. Alles, was ich denke, fühle, wahrnehme, interagiere, interveniere oder sonst mache, wird prompt durch das Raster meines Reizverarbeitungsprogramms geschickt. Während ausgedehnter Grübelattacken werden dann Kausalitäten und Erfolgsaussichten erörtert. Das Ergebnis wird dann unter Berücksichtigung aller psycho-zynischer Ansätze nochmals hinterfragt und nochmals hinterfragt.
Begleitet wird dieser Vorgang durch einen bedingten Reflex. Ungeachtet der Widerstandsfähigkeit des Bindegewebes ziehe ich meine Unterlippe Richtung Kinn. Abgesehen von der debilen Ausstrahlung, die dieser Geste beiwohnt, bereiten mir die ästhetischen Spätfolgen ein wenig Sorge. Allein eine permanent nach vorn umgestülpte Unterlippe, die die Sicht auf Zahnhälse, Zwischenräume und Plaque freigibt, würde mein Selbstbewusstsein sicher nachhaltig unter Druck setzen. Wenn man jedoch bedenkt, wie weit sich die Gesichtshaut dehnen lässt — die Mursi-Frauen in Äthiopien tragen Tonteller mit 15 Zentimeter Durchmesser in ihrer Unterlippe — wäre der progressive Unterlippenkrempling wohl mein Geringster.
Das Grübelrefugium ist an sich nicht der schlechteste Ort, um sich vom Weltstress zu erholen, der sogenannte geniale Funke ist dort genauso zu Hause wie der Jetzt-erst-recht-in-den-Hintern-Treter. Auch das Portal zum Ich-denke-an-nichts-Universum ist dort zu finden. Aber es birgt eben auch Gedankenlabyrinthe, Selbstdemontagehallen und Isolationskammern. Dort finden sich überdies verdammt schreckliche Ideen.
Wie bereits erwähnt, verirre ich mich wiederholt in meinen Gedankengängen. Lange Zeit erwies sich dabei der Einsatz geistiger Getränke als hilfreich. Mit Rauchen beschäftigte ich derweil meine Finger, was meiner Unterlippe eine gewisse Schonung verschaffte.
Mit den Jahren wurden die postethanoltherapeutischen Phasen jedoch zunehmend ausgedehnter. Die Grübel-attacken nutzten das mitleidlos aus. Da war nicht mehr viel mit Gegenwehr. Die Pforten in die tiefen dunklen Verliese meiner Seele waren aufgestoßen. Grauenvoll. Meine Unterlippe nutzte die Schaltpausen, um abzuhängen.
Dass ich irgendwann das Rauchen aufgab, verschaffte mir wortwörtlich etwas Luft. Doch frische Luft macht bekanntlich Appetit. Was erschwerend dazukam. Eine Dezitonne bei ein Meter einundachtzig ist schon ein Mahnmal, was wiederum zum Grübeln verleitet und zum Süffeln und zum Naschen und zum Grübeln.
Ich hatte Glück. Ich habe Glück! Ihr Name gehört nicht hier her. Nur so viel, sie hat mir Beine gemacht in vielerlei Hinsicht. Dank ihr habe ich vor sechs Jahren im Luisenpark meine ersten Runden gedreht, am Sonntagmorgen, damit mich niemand sieht. Meine Bewegungsabläufe hätten den uneingeweihten Beobachter veranlassen können, medizinische Hilfe zu rufen.
Mittlerweile läuft es ziemlich rund. Kein Wunder, das Gewicht einer Stiege Bier habe ich seither verloren. Zur Warnung vor Rückschlägen greife ich mir manchmal eine Kiste und versuche damit über den Hof zu flitzen. Beim Prometheus, was war ich für ein Kerl?
Keine Bange, ich will jetzt nicht all die Zauberdinge lobhudeln, die der Lauferei nachgesagt werden. Aber meine Grübelséancen habe ich seither zunehmend im Griff. Das liegt einfach daran, dass mich die innere Einkehr nunmehr mit Vorliebe während meiner Läufe heimsucht. Meine seelischen Abgründe haben dabei so gut wie keine Anziehungskraft mehr. Im Gegenteil: Der Rhythmus meiner Schritte gibt den Gedanken einen konstruktiven Drive. Im Schnitt reichen zwei Lauftage pro Woche für mein psychisches Gleichgewicht. Auf außergewöhnliche Verdrossenheit reagiere ich mit spontanen Einsätzen und, wenn ich Zeit habe, drehe ich auch schon mal eine prophylaktische Runde. Ach ja, meine Schnute ist aus dem Gröbsten raus. Die Arme sind halt beim Laufen beschäftigt. Dicke Lippe war gestern!
Natürlich ist die Lauferei nicht das Goldene Vlies der Selbstfindung. Zudem können unangenehme Nebenwirkungen auftreten. Doch was wären die Alternativen?
Klar gibt es Alternativen. Nur sie interessieren mich nicht. Wenn ich mittlerweile ein bestimmtes Laufsuchtniveau erreicht habe, gut, das Risiko gehe ich ein. Ich versuche aufzupassen und auf meinen Körper zu hören. Ratschläge sind auch o. k. Nur keine Zeigefinger! In meinen Synapsen lauern zig sportliche Argumente darauf, den Obergescheiten ins Wort zu fallen.
Ich möchte hier nicht den Eindruck aufkommen lassen, dass ich eine asketische Lebensweise begrüße oder pflege. Obschon ich Verzicht bei bestimmten Dingen oder zeitweise für lohnenswert erachte, halte ich umfassende oder ganzheitliche Abstinenz einzig für Erleuchtete mit dem Drang ins Nirwana oder für den Papst praktikabel. Ich denke bisweilen sogar, dass die Rundumentsagung bei weniger begnadeten Personen, wenn nicht körperliche, dann zumindest psychische Schäden bewirken würde.
Ein angestrebter ganzheitlicher Verzicht sollte deshalb ernsthaft überdacht werden. Zumindest wäre eine umfassende Untersuchung beim Hausarzt angesagt. Zudem sollte der Proband seine ureigenen Motive überdenken. Es gibt doch schon genug zwangsläufige Entsagungen. Darüber hinaus warten noch reichlich unangenehme in unserer kommenden Zeit. Des Menschen Trachten ist Genuss!
Die Vermutung, dass der Wunsch oder Drang zur fakultativen Rundumentsagung durch psychische Defizite hervorgerufen werden könnte, kommt ja nicht von ungefähr.
Sollten wir uns nicht vielmehr die Lebensfreuden, die die Abstinenz ablehnt, gönnen und gegenseitig ermöglichen? Zumal sie allesamt in der Gemeinschaft erst vollends beglücken. Das unbeirrte Miesepetern, wo es gar nichts zu miesepetern gibt, ist letztendlich auch nichts anderes als ein Abstinenzdiktat. Man stellt Spaß und Leidenschaft anderer in Frage und unterstellt ihnen obendrein Oberflächlichkeit und Einfalt.
Wer läuft, muss auf manches verzichten. Logisch. Nur fällt mir gerade nichts Wesentliches ein. Vielmehr passt Laufen in mein lustbetontes Lebenskonzept. Ich bin bekennender Genuss- oder Rauschläufer. Klar (oder leider) gipfelt nicht jedes Läufchen im Runner’s High. Sicher, Trainingsrückstand. 2013 muss da noch einiges passieren.
Im vergangenen Jahr lief es schon ganz gut. Unsere Suchtgruppe hat sich stabilisiert. Letztendlich hat uns die Laufgier bis nach Bergen (Norwegen) getrieben. 2013 stehen auch schon einige Tippelpartys an. Mit dem Kristallmarathon in Merkers wird es losgehen. Zum Rennsteigstaffellauf sind wir gemeldet. Krakow ist geplant. Der Rest ergibt sich. Insgesamt sollen es 12 Starts bei Volksläufen werden.
Natürlich werden wir dabei das laufendhelfen-Leibchen tragen. Ehrensache. Außerdem gibt der gute Zweck noch einen Extrakick.
O, o! Das waren ja ein positiver Jahresrückblick und gute Vorsätze. Zwar nicht ganz so ausschweifend wie das Geunke am Anfang, dafür jedoch durchweg zuversichtlich und nicht nur was die Endorphinausschüttung betrifft. Ich lass das einfach mal so stehen.
Außerdem zappeln meine Füße schon die ganze Zeit. Bevor mir endgültig der Garst hoch kommt, ziehe ich mir mal lieber eine Nase frische Steigerluft rein.
Noch ein gesundes und flottes Jahr 2013!
Bis die Tage Sid.