Wir hatten das Basislager, die Jenaer USV-Sporthalle an den Teufelslöchern, erreicht. Der Name des Orts ließ eine fanatische Horde Wolfgang-Petry-Jünger, die Apokalypse beschwörend, vor meinem inneren Auge auftauchen. “Hölle! Hölle!” Ich hatte mich im Griff.
Knapp tausend Sportsmänner und ‑frauen nebst Anhang hatten sich eingefunden. Das Org-Team hatte Biergarnituren und Unterhaltungsmusik besorgt. Ein paar der wenigen freien Plätze konnten wir ergattern.
Der Großteil hatte sich auf dem Rasen breit gemacht. Die Sonne sorgte für entsprechende Stimmung. Es wurde geschwatzt, gescherzt und gelacht. Wir schwiegen.
Mein Blick war die Kernberge hochgekraxelt. Ich hatte mich verschätzt. Die Gier auf einen einzigartigen Finisher-Kick hatte alle Zweifel verdrängt. Von Anfang an.
Lars hatte mich nach dem Erfurter Silvesterlauf 2013 auf die Saale-Horizontale angesprochen. Er meinte den Staffellauf. Ich hatte irgendwann mal etwas von der Wanderung gehört. Wanderung? Wir nickten kurz ab. Dabei blieb es. Ehrensache!
Dass von meinen anderen Lauffreunden einzig noch Tuti zusagte, hatte mich auch nicht weiter irritiert. Mit fehlender Zeit ließ sich doch heutzutage alles rechtfertigen. Jetzt summten meine Synapsen.
Einhundert Kilometer. Das wäre bei 24 Stunden Laufzeit, inklusive Pausen, ein Stundenmittel von 4,5 Kilometern. Mein Blick war Richtung Süden gewandert. Berge. Das machte es nicht leichter.
Tuti hatte Bier gereicht. Ein weiser Mann. Es war sowieso der falsche Moment, den Gang zu hinterfragen. Niemals würde einer von uns Dreien jetzt einen Rückzieher machen. Prost!
Der Chefveranstalter hatte die anwesenden Wandersleute nebst Anhang begrüßt. Ein wenig wehmütig beklagte er, dass es nicht ganz tausend Teilnehmer geworden wären. Immerhin 970 wollten es wissen.
Und dann ging es auch schon los. Ich schnürte noch ein wenig an meinen Schuhen herum, als sich die Wandertruppe in Bewegung setzte.
“Lass die Luschen ruhig lostraben, bis Zöllnitz haben wir die lange wieder im Sack!”
Unwillkürlich hatte ich die Blicke meiner Freunde gesucht. Und genauso unwillkürlich sahen wir uns um.
Die Strecke lockte auch Ultraläufer an. Zumeist starten diese später, um nicht zu früh die Versorgungsstellen, deren Öffnungszeiten sich am Tempo der Wandersleute orientieren, zu erreichen. Im Grunde sind sie erhaben gegenüber den weniger ambitionierten Sportsfreunden. Wie die meisten anderen Läufer und Wanderer auch. Aber es gibt sie eben, die Rennpfauen.
Normalerweise gewinnen sie mir nichts mehr als ein müdes Lächeln ab. Doch an jenem Freitagabend im Mai trafen sie mich auf dem falschen Fuß. Sie machten es mir aber auch nicht allzu schwer, sie unsympathisch zu finden. Während der Ältere, der immer wieder an einer PET-Flasche mit einer neonfarbigen Flüssigkeit nuckelte, irgendwelche Motivationssprüche vor sich herbetete, saugte der Jüngere jedes seiner Worte bananenmampfend in sich auf.
Ich hatte ihnen insgeheim ein langes, von psychischen Einschränkungen verschontes, sorgenvolles Leben an den Hals gewünscht, und malte mir aus, wie Isotrinkfix und Bananenbeißer im hohen Alter in einem Altenpflegeheim in Lauferinnerungen schwelgen würden. Aber niemand würde ihre Geschichten mehr hören wollen. Läufergarn aus einer Zeit, als man sich noch die Knie kaputt rannte. Die Pfleger würden sie wunderlich finden und vor allem so behandeln. Sich zu wehren, wäre angesichts ihres schwächelnden Fleischs ein weiterer Brüller. Ihre laufgestärkten Herzen würden jedoch schlagen. Ausdauernd.
“Dann mal los, ihr Luschen!” frotzelte ich. Wir tranken unser Bier aus und gingen zum Startbereich. Isotrinkfix und Bananenbeißer glotzten uns hinterher. Ich hatte mich nicht umgeschaut, ich spürte ihre Blicke. Sie hatten keine Ahnung von meinem Fluch.
Wir marschierten umringt von vielen Gleichgesinnten gen Süden. Die Wöllnitzer Straßen waren etwas überfordert. Unsere Prozession musste an engen Passagen immer wieder stoppen. Die Drängler hatten ihren Spaß dabei und die anderen ließen ihnen diesen. Alles in allem wirkte es nicht wie ein Hundert-Kilometer-Marsch. Es herrschte Partylaune. Es wurde viel gelacht, einige gönnten sich ein Bier und ein paar Meter vor uns bearbeitete ein Wanderbursche arteigen seine Wanderklampfe. Blowing in the wind!
Ich hatte meine Stöcke ausgepackt, es ging bergauf. Die Wege waren schmaler geworden. Gänsemarsch war angesagt. Wir sprachen nur noch das Nötigste. Den Musikus hatten wir hinter uns gelassen. Irgendwann war sein Geklimper verstummt. Die Party war vorbei.
Einem Lindwurm gleich schlängelten wir uns durchs Gelände. Schroffe felsige Hänge und Wildwuchs wechselten sich ab. Zwielicht. Steiniger Boden. Wurzeln. Nicht jeder kam mehr mit. Immer wieder stockte der Zug. Zum Überholen mussten die Betreffenden zur Seite treten. Gemurrt wurde jedoch kaum.
Wir hatten oberhalb von Drackendorf den Einsiedlerberg umwandert, als die ersten Ultras auftauchten.
“Läufer von rechts!”, “Läufer von links!” hörte man sie schon von Weitem. Sie hatten arg zu kämpfen, um uns auszuweichen bzw. zum Beiseitetreten zu bewegen. Wir Wanderer vermiesten ihnen sicher den Laufgenuss. Aber vielleicht war es auch ganz anders. Vielleicht sahen sie in uns so etwas wie humane Hindernisse, die der Sache einen zusätzlichen Kick gaben. Wieso sonst, mal die Öffnungszeiten der Versorgungsstellen ausgeklammert, sollte man der Wandergemeinde den Vortritt lassen, um sie dann im Halbdunkel einzeln zu überholen? Wir waren über 900 Leute, die einer nach dem anderen bergauf und bergab durch die Gegend stiefelten. Ihr sportlicher Ehrgeiz wurde zudem nicht durchgehend mit Wohlwollen aufgenommen. Sie nervten. Es wurde gemurrt.
Isotrinkfix und Bananenbeißer hatte ich nicht unter den Vorbeiläufern ausgemacht, obschon sie es versprochen hatten. Und schon machte ich mir Gedanken darüber, dass ich mir Gedanken über sie machte.
Immer wieder passiert es mir, dass irgendwelche Menschen, die mich emotional weniger berühren als die besagte chinesische Reistüte, mein Hirn besetzen. Wie die grausig beschämende Schnulze, die sich in unaufmerksamen Momenten im Ohr festdudelt und fortan den Tagesrhythmus bestimmt, tauchen sie dann fortwährend unangemeldet in meinen Gedanken auf.
Zwei Unbekannte von Wer-weiß-woher
wollten schon immer ein wenig mehr
als all die anderen Unbekannten,
die sich auf dem Marsch um Jena befanden.
Bedenklich! Äußerst bedenklich! Sie setzten mir in Reimen zu und ich hatte noch gute 85 Kilometer vor mir. Vor allem erwischte ich mich dabei, wie ich versuchte, einen Sinn oder zumindest etwas Witz in die Verse zu pressen. Zudem verzückte mich der Gleichklang dreier Stationen der ersten Etappe. „Wöllnitz, Ilmnitz, Zöllnitz“, dadaisierte ich vor mich her.
Ich fand jedoch keinen Bezug zu bzw. zwischen den Typen und Orten. Der Sinnstifter wollte mir partout nicht erscheinen. Mein Hirn fühlte sich an, als wäre es ein wenig angeschwollen. Druckempfindungen oberhalb meiner Augäpfel verstärkten diese Eingebung.
„O! O!“ Vor lauter Grübelei hatte ich vergessen, meine Stirnlampe auszupacken. Normalerweise wäre das kein Problem gewesen: Rucksack ab, Stirnlampe raus und aufgesetzt, Rucksack auf, Stirnlampe an und weiter. Aber Normalerweise war nicht.
Wir hatten bei Ilmnitz die Landstraße überquert und einen abschüssigen Pfad erreicht. Er wurde rechts durch einen bewaldeten Hang und links durch einen steinigen Abgrund begrenzt und maß dazwischen keine dreißig Zentimeter. Selbst bei Tageslicht und allein hätte hier niemand große Sprünge gemacht. Und jetzt war es dunkel, stockdunkel. Ich hatte gar keine Chance stehen zu bleiben, um etwas auszupacken. Alle Nachfolgenden hätten warten müssen. Irgendeiner hätte bestimmt geschoben oder ähnliches und das hätte wohl alle wieder in Bewegung gesetzt und Bauz!
Also tippelte ich mit dem Strom. Ich sah nicht immer, wo ich hintrat. Einzig die Lampe meines Hintermanns zeigte mir etwas vom Weg. Zumeist stand ich mir dabei aber selbst im Licht.
Ich kam heil unten an. Darauf gewettet hätte ich nicht.
Bis zur Versorgungsstelle Zöllnitz war es dann nicht mehr allzu weit. Kurz vor halb elf erreichten wir den Festplatz des Ortes. Hochachtung vor den Helfern. Der Ansturm der Wandermeute verlangte ihnen alles ab. Aber sie ließen sich nicht aus der Ruhe bringen. Ihre Freundlichkeit war ansteckend. Wir hatten uns etwas gestärkt und zogen nach einer guten halben Stunde weiter.
Zunächst ging es nach Schiebelau. Wie der Esel hinter der Möhre lief ich dem Lichtstrahl meiner Stirnlampe hinterher. Außerhalb dessen war alles schwarz. Die Welt war ausgeschaltet.
Vom Rittergutshof selbst bekamen wir nicht viel mit. Es war nach Mitternacht. Einzig die heimischen Hunde sorgten für etwas Abwechslung. Die Einwohner hatten einiges auszuhalten. Denn nach uns kamen noch einige Wanderer, was die treuen Freunde der Menschen lange nicht zur Ruhe kommen ließ.
Weit nach der Geisterstunde
Bellten alle Hunde
Des Rittergutshofs Schiebelau,
Denn all die unbekannten
Horizontalequerulanten
Kreuzten — ganz genau -
Gerade Schiebelau.
Ich schüttelte mich, als hätte ich einen Molch verschluckt. Es war nicht die erste Lyrikpsychose, die mich heimsuchte. Doch üblicherweise gründeten diese auf euphorischen Grübeleien in biertaumliger Atmosphäre. Also einem völlig andersartigen sozio-kulturellen Background.
Natürlich gibt es Schlimmeres, wie geschwollene Füße auf Wanderschaft zum Beispiel. Ja, wenn man sich es aussuchen könnte. War aber nicht!
Ich hatte beides am Backen. Zudem marschierten Tuti und Lars fern aller Abnutzungserscheinungen. Ich hatte Mühe, dran zu bleiben.
Mittlerweile hatte sich das Feld der Wandersleute weit auseinandergezogen. Dennoch hatten wir immer jemanden in Sichtweite, der uns sozusagen führte. Auch sonst meinte es der Wandergott sehr gut mit uns. Es war weder kalt noch übermäßig windig. Und es war trocken. Luschenwetter!
Kurz hatten sich Isotrinkfix und Bananenbeißer durch meine Gedanken gekalauert, aber es blieb nichts haften. Dafür hatte mich eine romantische Schrulle beseelt.
Zwischen Maua und Leutra stiegen wir eine Senke hinab. Ich hatte meine Stirnlampe abgeschaltet. Der Tunnel aus Dunkelheit um mich brach auf.
Die Umgebung offenbarte sich in graublauen Silhouetten und schwarztriefenden Schatten. Von Norden drängte fahles Stadtlicht. Durch den Nachtdunst blinkten vereinzelte Sterne. Eine Eule zog darunter jagdtriebig ihre Kreise.
Wir waren einen Moment stehen geblieben. Leichter kühler Wind wehte uns talaufwärts entgegen, als würde die Nacht uns ihren Atem ins Gesicht hauchen.
Das muss das Glück sein, dachte ich. Für einen Moment wollte ich mich unter eine Buche setzen und für immer bleiben. Ich malte mir aus, wie Wurzeln und Äste des Baums sich über meinen Körper schlingen und mich zunehmend in den Stamm pressen würden. Bis zur Vereinigung. Allein die Konturen meines Gesichts würden sich noch in der Rinde abzeichnen. Fortan würde ich den Vorbeikommenden, so sie sich im Schatten des Baumes ausruhen und besinnen würden, die Weisheiten des Kosmos einflüstern. Ich würde von Zufall und Fülle reden, von Symbiose und Energie, bis sie überzeugt wären, das Universum habe sie eingeweiht und dazu auserkoren, es allen zu erzählen.
Das würde mir bestimmt Spaß machen. War aber nicht!
Oberhalb des Hangs, den wir hinab kamen, wanderte eine Lichterkette Richtung Westen.
Komisch, witzelte ich in mich hinein, wie nah Glück und Glück doch beieinander liegen können. Wir hatten den Weg verfehlt. Dafür erlebte ich einen Nachtlandschaftsrausch, der seine synthetischen und pflanzlichen Geschwister in allen Belangen in den Schatten stellte, und wir mussten nicht einmal umkehren. In Leutra, das einige hundert Meter vor uns lag, würden wir wieder auf die vorgegebene Strecke geraten.
Der eine oder andere hätte hierbei vielleicht an überirdischen Beistand gedacht. Glück kann schon verunsichern. Aber was war schon passiert? Ein kleines Missgeschick mit positiver Wendung, eine überraschende Ausschüttung von Dopamin, also nichts Unerklärliches, eine romantische Schrulle, mehr nicht.
Die Vernunft hatte mich wieder. So wie die Gewissheit, dass noch über 65 Kilometer vor uns lagen. Dazu gesellte sich sogleich die Einsicht, dass ich in meinem Leben noch nie 65 Kilometer zusammenhängend gewandert war. Gewandert? Stimmungswechsel!
Glücksmomente fliehen.
Sie waren nur geliehen.
Was gab ich
eigentlich?
Glücksmomente fliehen.
Sie werden nie verziehen.
Vergab ich
eigentlich?
Ich hab so viel versprochen.
Was hielt ich
überhaupt?
Was hab ich mir versprochen
und nie an mich
geglaubt?
Wir hatten die A4 erreicht und trotteten westwärts. Meine Lyrikpsychose hatte sich eine depressive Verstimmung eingefangen. Die Autobahn lieferte den passenden Soundtrack. Es ging auf zwei Uhr morgens zu, das hieß wir waren bereits gute sieben Stunden unterwegs. Ich hatte in Gedanken die Verse vertont und brubbelte sie kehlig vor mich hin. Die Laufstöcke hieb ich dazu im Takt in den Boden. Walking blues.
Tuti und Lars bekamen davon nichts mit. Laufmaschinen. Beide! Auch nicht gerade Balsam für meine Seele. Ich walkte hinterher.
Überraschung! Lars hatte zwar davon geredet, doch irgendwie hatte ich es vergessen. In der Nähe von Pösen hatten seine Freundin Melitta und sein Kumpel Matti einen exklusiven Versorgungsposten eingerichtet. Irgendwie hatte ich auch übersehen, dass sich Juri, Mattis Schwager, unserer kleinen Gruppe angeschlossen hatte.
Die Ursachensuche schluckte ich mit dem ersten Bissen herunter. Was für ein Gelage! Was für ein Kick! Neben belegten Broten gab es Kaffee und Kuchen, Bier und Melone. Wir schlemmten. Wir schwatzten. Wir machten Witze über unsere müden Knochen und die paar Meter, die noch vor uns lagen.
Nach ca. zwanzig Minuten zogen wir weiter, satt und glücklich und gefühlte zehn Kilo leichter.
Melitta und Matti begleiteten uns. Sie beteuerten mehrfach, dass keine leistungsfördernden Substanzen in den Leckereien versteckt waren. Ich schenkte ihnen Glauben. Kein aber! Kein nennenswertes zumindest!
Bis zur Festwiese Ammerbach, der nächsten Versorgungsstelle, waren es noch knappe 8 Kilometer. Bestimmt hätte ich es auch ohne das Mentaldoping geschafft, meine psychische Gesundheit hätte dabei jedoch arg gelitten. Sicher nicht folgenlos.
Das Hochgefühl war ein Hochgefühl, also schon bald verpufft. Die gefühlte Gewichtsreduktion gleichermaßen. Unser kleines Gefolge hatte sich vereinzelt. Ich trottete wieder mal hinterher.
Die Marathondistanz ist für mich üblicherweise das Maß der Dinge. Doch hier langte es nicht einmal für die Hälfte. Nahe Cospoth begann ich wieder im Laufstocktakt vor mich hinzubrummen. Ich wusste, dass ich noch einmal einen Marathon laufen musste und dann noch einmal fünfzehn Kilometer. An meinen Fußsohlen wuchsen Blasen. Ich hatte den Blues.
3:45 Uhr. Kilometer 46. Festwiese Ammerbach. Hinsetzen, dachte ich, nur hinsetzen. Aber nichts. Alle Bänke waren besetzt oder reserviert. Und das Gras war feucht. Ich malte mir aus, wie ich mit feuchter Hose weitermarschieren würde und wie ich mir dabei den Wolf rieb.
An den Versorgungsständen herrschte Gedränge. Anstehen! Wandern war schlimm, aber stehen war der Hass. Sobald ich innehielt, hatte ich den Eindruck, dass mich die Schwerkraft zu Boden drückte. Irgendwann hielt ich dann doch einen Versorgungsbeutel und einen Kaffee in den Händen und als ich meine Freunde fand, war mir die Grasfeuchte egal.
Ich lümmelte rücklings, eine Plastiktüte unterm Hintern, auf der Wiese. Fußpflege. Es sah nicht gut aus. An verschiedenen Stellen schien die Haut aufzuplatzen. Doch Tuti wusste Rat. Er hatte ein Wundermittel dabei, eine Art Wachsstift, der Blasen mildern könne. Trotz meiner Skepsis behandelte ich die betroffenen Stellen damit. Es kühlte. Trockene Strümpfe wären auch nicht schlecht, dachte ich. War aber nicht!
Fortan jeder für sich. So war es abgesprochen. Wir verloren kein Wort darüber.
„Leute, ich geh schon mal los. Ihr habt mich eh gleich!“
Ich drehte mich auf die Seite und drückte mich mit meinen Stöcken in die Senkrechte. Die Ruhepause war mir nicht allzu gut bekommen. Beim Bücken nach meinen Rucksack spürte ich ein kräftiges anhaltendes Ziehen vom Brustbein über die Schulterblätter in die Arme und zurück den Schultergürtel entlang, die Hals‑, Brust- und Lendenwirbel hinab zum Kreuzbein. Von dort zog der Schmerz in die Beine, wo er sich unbefangen ausbreitete.
Ich unterdrückte eine obszöne Unmutsbekundung und zog grummelnd ab. Ich wollte allein sein. Ich wollte fluchen.
Zunächst ging es mal wieder bergauf. Haeckelstein. Mit der einsetzenden Morgendämmerung erhellte sich auch meine Laune. Ein wenig! Am Ernst-Haeckel-Denkmal traf ich Tuti wieder. Wir genossen für einen Moment die Aussicht und trennten uns endgültig. Ohne Theatralik. Wir waren schließlich nicht auf einer Polarexpedition, sondern wanderten auf einem Rundweg um Jena. Hier ging man nicht verschollen, höchstens krachen und das war nichts Existentielles, wenn überhaupt war es ärgerlich.
Kurze Zeit später hatten mich auch Lars und Melitta sowie Juri und Matti überholt. Gleiches Ritual: Bis bald! Alles Gute!
Dann ging es wieder bergab und bergauf. Paulsberg. Kahles Höhe. Münchenrodaer Grund. An einem Rastplatz, an dem ich vorüber kam, hatte sich ein Wanderer ausgestreckt. Ich war geneigt, mich dazu zu legen, konnte jedoch der Eingebung widerstehen und stöckelte weiter.
Nur kurz darauf traf ich auf Matti. Er sprach mich sofort auf den rastenden Wanderer an. Es war Juri! Ich hatte ihn nicht erkannt.
Juri wollte ein paar Minuten Ruhe. Sie bräuchten nicht zu warten, er käme gleich nach.
Gleich zog sich dann in die Länge. Es passiert schon mal, dass sich der eine oder andere bei so einer Strecke eine Auszeit nimmt. Nicht immer finden sie wieder in die Spur zurück. Der Mann mit dem Hammer kann es auch subtil.
Wie es den beiden erging, ist eine andere Geschichte. Mich mahnte dieses Erlebnis jedoch zur Vorsicht. Immer wieder ist zu hören, dass Wanderer am Ende eines langen Marschs beim Rastmachen einschliefen bzw. nicht mehr auf die Beine kamen. Auch in den Horizontale-Foren wurde davor gewarnt. Doch wirklich beunruhigend empfand ich es nicht.
Plötzlich entsann ich mich, dass auch mir der Blitzschlaf schon manchen Streich gespielt hatte. Peinlich mitunter, wenn ich davon erzählen würde. Ergo? Zurück zum Thema!
Kennzeichen des Blitzschlafs ist sein Überraschungsmoment. Klar verspürt man eine gewisse Müdigkeit, aber Schlafphantasien kommen einem dabei genau so wenig in den Sinn, wie erotische Begierden beim Anblick ungewaschener Läufermauken. Doch dann – Überraschung – ist man hellwach! Indes ist jedoch ein Stück der Lebensgeschichte verloren gegangen.
Das verwirrt und es dauert eine Weile bis die Orientierung wiederkehrt. Mit ihr kommt dann die Gewissheit, dass da einige Meter Film irreversibel verschollen sind, was wiederum reichlich Platz für Spekulationen bietet. Zeugen helfen manchmal, die Erinnerungslücken zu schließen. Mit ihren Erinnerungen. Doch die sind extrem sympathieabhängig.
Ich schweifte ab. Die Angst vorm spontanen Einschlafen hatte ich verdrängt. Was nutzte es groß aufzupassen, wenn es ohnehin nichts half. Der Hammermann war kein Grützekopf, der jodelnd durchs Unterholz stampft. Ihn zu entgehen, hieß ihn zu ignorieren und Glück zu haben. Was er gar nicht verknusen kann, ist Frohsinn. Gut gelaunte Läufer und Wanderer meidet er wie Aussätzige. Vielleicht lag es daran, dass er mir die folgenden Kilometer nicht auf die Pelle rückte.
Mein Kopfkino präsentierte hochnotpeinliche Blitzschlafgeschichten aus eigener Produktion. Umso beschämender sie einst waren, desto vergnüglicher waren die Retrospektiven.
Keineswegs möchte ich die Tortour von der B7 zum Landgrafen und weiter Richtung Windknollen schönreden. Doch die kleinen aufgearbeiteten Episoden aus meiner Biografie lenkten mich ein wenig ab. Den Fettnäpfen sei Dank!
Irgendwo zwischen Rautal und Jägerberg war es dann passiert. Die weiß-rot-weiße Markierung war verschwunden. Der Weg, den ich eingeschlagen hatte, führte in ein Tal. Wie immer in derartigen Situationen.
Umkehren und den Hang wieder hinaufstiefeln, war nicht sehr verlockend. Immerhin bestand die Möglichkeit, dass ich doch auf dem richtigen Weg war. Und dann müsste ich wieder umkehren. Aber weiter gehen?
So weit ich blicken konnte, scannte ich die Bäume nach Horizontalehinweisen ab. Ich hoffte und bangte, aber nicht einmal eine Halluzination wollte sich sehen lassen. Und andere Wanderer? Fehlanzeige!
Die Anzeichen, besser die fehlenden Anzeichen, waren eindeutig. Ich war falsch. Zurückzulaufen bis wieder eine Markierung auftaucht, wäre jetzt die einzig richtige Entscheidung.
‚Klugscheißer!’ moserte ich. Ich war zumindest stehen geblieben. Und stehen war der Hass.
Jeder Weg ein Scheideweg.
Jedes Mal die Qual der Wahl.
Doch ohne dieses Privileg
Wäre alles scheißegal.
Jede Wahl der Mittelweg,
Total normal ist optimal.
Das Fremde ist ein Sakrileg,
Das Unbekannte, scheißegal!
Jeder sucht auf seinem Weg
Einmal nur das große Los.
Das Schicksal sieht’s nicht ein.
Jeder Weg ein Scheideweg.
Wir geh’n nicht los,
Wir gehen ein!
Pessimismus. Fatalistischer Pessimismus. Und auch noch mit Kraftausdrücken dekoriert. Mein psychisches Immunsystem war spürbar an seine Grenzen geraten. Hier ging es nicht mehr um eine temporäre Lyrikpsychose. Die Sinnfrage beherrschte meinen Gedankenpalast, die Sinnfrage in Person des naiv-penetranten Warum-Scheißerchens.
Auf Blitzschlaf, Blasen und Schulterkreuzhüftknieknöchelschmerzen war ich mittlerweile ganz gut eingestellt. Ignorieren hilft wirklich. Und ab und zu ein couragierter Fluch. Aber ignoriere mal den Warum-Scheißer oder verfluche ihn gar!
Jammer. Er kontert mit läppischem, piepsigem Jammer. Das willst du nicht hören!
Warum gehst du nicht den bequemeren Weg? Warum musst du dich quälen? Warum hörst du nicht auf deinen Körper? Warum reicht dir das bisher Geschaffte nicht? Warum musst du es dir ständig beweisen? Warum ist aufgeben Luschenkram? Warum sind dann Isotrinkfix und Bananenbeißer Arschlöcher? Warum hat Rot-Weiß hier fünf Buden kassiert?
Es gibt eine Lösung. Streichle das Ego des Scheißers, bis er selbstverliebt eindöst! Gib ihm Recht! Spiel mit ihm! Und mach währenddessen dein Ding!
Ich war den Berg wieder hinaufgekraxelt. Fünfzehn Minuten brauchte ich bis zur weiß-rot-weißen Gewissheit.
Kaum war ich wieder auf dem richtigen Weg, tauchten auch wieder Horizontalisten auf. Einige wirkten arg mitgenommen. Nicht wenige humpelten oder tippelten. Blasen. Zehrungen. Der Wolf. Ich überholte einen Wanderkollegen, der einen mächtigen Ast als Krücke nutzte, und erkundigte mich, ob ich helfen könne. Er schwärmte vom Zieleinlauf.
Der Warum-Scheißer döste. Meine Füße waren geschwollen. Vor wund geriebenen Stellen und offenen Blasen blieb ich jedoch bisher verschont. Tutis Wundermittel sei gepriesen! Auch sonst waren die Beschwerden auszuhalten, zehrend, aber auszuhalten. Ich dachte an die Wanderkollegen. Ich hatte nichts auszuhalten!
Es war 9:00 Uhr durch. Die Wandererdichte hatte um einiges zugenommen. Neben dem 100 Kilometer-Gang gab es noch eine 35 Kilometer-Sportwanderung, die Samstagmorgen gegen 6:00 Uhr startete. Es war angenehm wieder mehr Menschen um sich zu haben. Mit Verschiedenen wechselte ich ein paar Worte, allgemeines Hals- und Beinbruch, nichts Weltbewegendes, genau das, was ich jetzt brauchte.
Ich weiß nicht mehr viel von der Nordpassage; weder die Landschaft um den Jagdberg noch der Ortsteil Zwätzen hatte meinen Gedankenpalast mit Bildern bestückt.
Einzig an ein Ortsschild von Kunitz kann ich mich erinnern. Es war von zwei Kilometern die Rede. In Kunitz war der dritte Versorgungspunkt. Die Siebzig würde fallen. Obwohl ich mich kreuzlahm fühlte, kam ein wenig Euphorie in mir auf. Zwei Drittel der Strecke hatte ich geschafft. Und dort könnte ich mich ein wenig ausruhen. Sitzen. Fünf Minuten sitzen.
„Warum sind die letzten zwei Kilometer nur immer so lang?“
Gemach, gemach, Scheißerchen! Das ist nur um dich zu testen. Aber du bist ja auf der Höhe der Aufgaben. Leg dich ruhig wieder hin! Ich sag dir bescheid, wenn was ist. Ehrlich!
09:54 Uhr gab ich dem Streckenposten meine Stechkarte. Rund um die Bushaltestelle von Kunitz hatten die Veranstalter einiges an Speis und Trank auffahren lassen. Die Musikbox schepperte Poptrallala. Frühschoppenstimmung. Die Versorger waren großartig.
Ich hatte mir einen Teller mit Wurststullen und Kuchen sowie Kaffee und Cola reichen lassen und suchte etwas hilflos einen Platz. Selbst die Bordsteinkanten waren besetzt. Einige hatten sich rücklings auf der Straße ausgebreitet. Bei Nahrungsaufnahme, Wundversorgung und Erholungsritualen wurden zeitgemäße kulturelle Normen nicht allzu eng gesehen. Auch meine Kinderstube hatte gelitten. Ich hatte einen Platz-da-Brüller angestaut, der kurz vor der Eruption stand.
Auf einmal stand Lars vor mir. Ich presste ein kleinlautes Hallo heraus, mehr war nicht drin. Lars grinste und schob mich hinters Wartehäuschen. Dort hatte er zwei Meter Bordstein besetzt. Genug Platz für uns drei. Melitta hatte, während er mich ansprach, die Stellung gehalten.
Sitzen. Oder so. Und Essen. Und Kaffee schlürfen. Und Freunde. Herz, was willst du mehr?
Lars und ich hatten vereinbart, die letzten Dreißig gemeinsam anzugehen bzw. durchzustehen. Melitta hatte indes den Rückzug angetreten. Sie wollte von vornherein nur eine Etappe mitlaufen. Letztendlich hatte es ihr wohl auch gereicht. Ich dachte noch mal an das Nachtbuffet an der Autobahn. Was für ein Support! Irre!
Kunitzburg hieß das nächste Zwischenziel. Also bergauf. Ich hatte mal wieder Anlaufprobleme, verkniff mir jedoch jegliche Äußerung. Angesicht der Schrunden die Lars sich zuzog, war das Luschengejammer.
Lars hatte sich bei seiner Ausrüstung etwas vertan. So marschierte er mit Arbeitsschuhen. Diese hatten ihm bei einer alpinen Wanderung gute Dienste geleistet. Streckenlänge und ‑profil der Horizontale waren sie weniger gewachsen. Die Sohlen lösten sich langsam auf. Zudem malträtierten die Stahlkappen seine Zehen. Auf Wanderstöcke hatte er außerdem verzichtet. Das rächte sich nun zunehmend.
Mittlerweile war es zwölf Uhr durch. Es war warm, aber nicht allzu heiß. Gefühlte 24 Grad. Die Sonne war bestens hinter dichten Haufenwolken versteckt.
Wir hatten auf dem Hufeisen, einem bewaldeten Höhenzug, Lasaan umwandert und quälten uns ins Tal nach Wogau. Der Bergweg hatte es in sich. Mehrere Anstiege reihten sich aneinander. Aber das steckte ich einigermaßen weg. An meine Grenzen geriet ich jedoch bei den Abstiegen. Besonders das Hinab am südwestlichen Ende des Hufeisens weckte den Warum-Scheißer in mir. Cirka zwei Kilometer scharfsteiniger Untergrund bei cirka 50 Prozent Gefälle.
Bei jedem Schritt wurden sämtliche Gelenke durch ein Vielfaches meines Körpergewichts ineinandergepresst. Die Füße quetschten sich in den vorderen Teil meiner Wanderschuhe. Die Zehen waren eingerollt und geschwollen. Dank meiner Wanderstöcke konnte ich die Wucht beim Auftreten ein wenig abfedern. Lars hatte keine Wanderstöcke. Lars trug abgelaufene Arbeitsschuhe.
Ich hatte davon gehört, dass bei längeren Strecken und dementsprechenden Beschwerden, Wanderer Teilstücke rückwärts laufen. Lars lief seitwärts. So konnte er es vermeiden, dass jedes Mal, wenn er beim Abstieg auftrat, die Stahlkappen seiner Arbeitsschuhe in seine Zehen schnitten. Lars nahm es klaglos hin. Sein Laufstil und seine Mimik verrieten jedoch, dass er litt.
In Wogau und Jenaprießnitz ging es arg weiter. Kopfsteinpflaster. Asphalt. Selbstironie.
Zunehmend nahmen wir unsere Naivität aufs Korn. Ich erinnerte mich, wie ich am 28. Februar kurz nach Mitternacht zum Anmeldestart eine fröhliche Bierrunde abrupt verließ und heim rannte, weil ich mich nicht mit dem Handy auf der Horizontale-Seite einloggen konnte. Ich befürchtete, die Startplätze würden postwendend ausgebucht sein. Nach meiner Rückkehr waren die Kumpels verschwunden. Das hing mir lange nach. Auch weil das Teilnehmerlimit von 1.000 Startern nie erreicht worden war.
Selbstironie half ein wenig. Obwohl ich gestehen muss, dass der Warum-Scheißer dabei unbehelligt mitjaulte.
Hinter Jenaprießnitz hatte die heimische Reservearmee eine kleine Zusatzverköstigungsstelle eingerichtet. Kaffee. Obst. Traubenzucker. Und Sitzmöglichkeiten.
Viele der anwesenden Horizontalisten waren mir inzwischen zumindest vom Sehen her bekannt. Mehrfach hatten wir uns gegenseitig überholt und dabei einen aufmunternden Gruß zugerufen. Nun saßen Lars und ich vorm Jenaprießnitzer Reservistenstand inmitten der Wandergemeinde auf Bierbänken und spannten Horizontalegarn. Alles erlebte Leid war auf einmal Anlass für Witze und Spötteleien. Wir lachten. Die Stimmung war ausgelassen. Mit Verbissenheitseinlagerungen. Im positiven Sinn.
Dann ging es westwärts. Felder und Wald und bergan. Nach gut einer Stunde hatten wir den Hausberg erreicht und treppauf den Anstieg zum Fuchsturm bewältigt.
Der Fuchsturm war einst Hauptturm der Burg Kirchberg. Heute wird das 30 Meter hohe Gemäuer als Aussichtsturm genutzt. In der Burganlage wurde natürlich eine Ausflugsgaststätte eingerichtet. Wie es uns gelang, die Schankwirtschaft zu ignorieren, kann ich nicht mehr genau sagen. Vermutlich war sie geschlossen.
Statt Bier genossen wir einen Moment lang den Rundblick über das Jenaer Land. Ich hatte versucht unseren Weg am Horizont nachzuverfolgen. Das Ausmaß der Strecke erschien mir jedoch unwirklich. Auch das Erlebte wirkte plötzlich nicht mehr real, eher wie Episoden eines Films. Nichts bleibt!
Das war das Signal zum Aufbruch. Mein Hirn wollte gerade den Sinnlosmodus hochfahren, doch ich war schon auf den Beinen. Zunehmend bekam ich meine Grübelgeister in den Griff. Das wohl auch, weil sich unweigerlich das vertraute Erschöpfungs- und Schmerzlevel einstellte. Von wegen nichts bleibt.
Wir hatten Glück, ein aufmerksamer Wanderkollege hatte uns rechtzeitig korrigiert. Die 35-km- und 100-km-Strecke verliefen fortan auf verschiedenen Pfaden. Andere hatten weniger Massel, einige 35-km-Aktivisten kamen uns auf der Straße zum Steinkreuz entgegen und nicht alle waren froh gestimmt.
14:19 Uhr. Steinkreuz. Wir waren jetzt über 20 Stunden am Start. Wir hatten 85 km abgerissen. Wir waren gut drauf; völlig platt, aber gut drauf.
Es ist unredlich die Versorgungsstellen zu vergleichen, alle hatten sie Großartiges geleistet. Aber am Steinkreuz hatte ich das Gefühl in der VIP-Lounge der Horizontale zu landen. Wir wurden von den Ehrenamtlichen aufs Freundlichste begrüßt. Die Verpflegung war vom Feinsten. Und dabei waren die Helfer hier schon seit 7:00 Uhr im Einsatz ohne Vorbereitungs- und Anfahrtszeit.
Die anwesenden Marschierer, vielleicht fünfzehn Leute, hatten alle an einer großen Biergarnitur Platz gefunden. Es herrschte ein Stimmung wie beim Motivationsseminar.
An meiner Seite hatte ein junger Mann seine Füße freigelegt, um seine aufgeplatzten blutenden Blasen zu verarzten. Er erzählte mir dabei Horizontalegeschichten vergangener Tage. Hin und wieder zeigte er Anzeichen von Schmerzen, die er aber sofort ironisch kommentierte. Dann sprach er von den letzten hundert Metern bis zum Ziel. Mit dem Lächeln hätte er jede Präsidentschaftswahl in den Vereinigten Staaten gewonnen.
Plötzlich meldete sich Lars. Tuti hatte ein Bild gesendet. Es zeigte ihn, wie er im Kofferraum eines Octavia Scouts sitzt und ein Fußbad geniest.
Er war also im Ziel. Unglaublich, er hatte gegenüber Lars und mir fünfzehn Kilometer rausgewandert. Ab Kilometer fünfzig!
Einer von uns Dreien hatte es also geschafft und wird nun warten und uns die Daumen drücken. Er wusste, was uns noch bevorstand.
Inzwischen machte die Nachricht die Runde, dass eine Horizontale-Aktivistin abbrechen würde. Fünfzehn Kilometer vorm Ziel. Eine Entfernung, die angesichts der Hundert fast lächerlich wirkte. So richtig verstehen konnte ich es erst nicht. Aber ich hatte auch nichts weiter auszustehen. Ich weiß nicht, wie ich reagieren würde, wenn es mir wie meinem Nachbarn oder Lars ergehen würde. Immerhin hatten wir noch fast vier Stunden Laufzeit vor uns und das Streckenprofil ließ einiges befürchten.
Wanderlust und Naturerlebnisse zogen nicht mehr. Es war wohl Ehrgeiz und Arroganz, die mich weiter trieben. Ich wollte nicht zurückstehen. Aufgeben ist Luschenkram! Isotrinkfix und Bananenbeißer saßen wie Waldorf und Statler auf der Empore meines Gedankenpalastes und feixten sich eins.
Sogleich hatte sich auch das Warum-Scheißerchen in mir gemeldet. Warum lässt du es nicht auch gut sein? Warum nimmst du dir nicht an dieser autarken Persönlichkeit ein Beispiel?
Und dann trickste ich mich aus. Ich sagte Lars, dass ich weiter möchte. Er nickte und wir stampften los. Ich wollte so schnell wie möglich Ziegenhain hinter mir lassen und die Kernberge hinauf.
Irgendwie gelang es mir, meine Launen und Zweifel auf Abstand zu halten. Ich wusste, es war nur eine Frage der Zeit und sie würden wieder über mich herfallen. Doch dann wäre es zu spät zum Aufgeben. In den Kernbergen hätte mich keiner abholen können. Ins Ziel zu marschieren, wäre dann die einzig sinnvolle Option.
Die Abbrecherquote bei dem 100-Kilometer-Gang ist relativ hoch. Schade, dass sie kaum Erwähnung finden. Sie hätten alle eine Horizontale-Nadel verdient. Ihrer Selbstbeherrschung verdanken schließlich alle, die ins Ziel kommen, dass sie ungezwungene feiern können. Nicht auszudenken, wenn sie bis zum Umfallen weitermarschieren würden. Letztendlich wäre diese Veranstaltung unter diesen Umständen nicht möglich. Niemand würde das verantworten wollen oder können.
Ich kenne die junge Frau nicht, aber ich ziehe den Hut, wie auch vor all den anderen, die sich für ihr eigenes Tagesziel entschieden haben bzw. entscheiden werden. Sich eingestehen können, dass es nicht mehr weiter geht, heißt doch, dass man bis an seine Grenzen gegangen ist und dies akzeptieren kann.
Wir hatten die Kernberge erreicht und den letzten größeren Anstieg bewältigt. In luftiger Höhe ging es auf einem schmalen steinigen Weg weiter. Am Himmel hatte sich einiges zusammengeballt. Doch der USV-Sportplatz war schon zu sehen. Zunächst zumindest. Nach einem Linksschwenk verloren wir das große Ziel wieder aus den Augen. Dafür blies der Wind plötzlich kräftiger. Ein großer Regentropfen klatschte mir ins Gesicht.
15:30 Uhr. Wolkenbruch. Wir hatten entschieden weiterzumarschieren. Es war nicht abzusehen, wie lange das Gewitter gehen würde. Das Ziel dagegen war abzusehen. Und irgendwann demnächst müsste ja der Weg hinab führen. Letztmalig.
Wir mussten wieder hinter einander laufen. Zwischen den steilen Muschelkalkfelsen linkerhand und den gleichermaßen steilen Abhängen auf der rechten Seite blieb nicht allzu viel Platz. Zudem hatten sich Rinnsale oder besser kleine Sturzbäche auf dem Pfad gebildet, die uns entgegenströmten. Es war nicht ungefährlich. Gerade in den Biegungen war der Boden abschüssig und glatt. Trotzdem liefen wir schneller.
Angesichts des nahenden Ziels und des Unwetters konnte ich noch irgendwoher Energie freisetzen, was wahrscheinlich dazu führte, dass einige Hirnareale unterversorgt blieben. Den Kontakt mit der Außenwelt hatte ich abgebrochen. Ich fluchte. Ich jammerte. Und flehte den verdammten Abstieg herbei. Regen und Wind blieben unbeeindruckt.
Dann ging es bergab. Noch bevor wir den Fürstenbrunnen erreichten, war das Unwetter vorbei. Mein Denkapparat schaltete sofort auf Zieleinlauf. Vier Kilometer. Das war’s dann. Auch das Gewitter wertete ich umgehend um. So kurz vor Schluss gab es doch der Wanderung noch eine zusätzliche abenteuerliche Note.
Die Großkotzlaune legte sich alsbald. Die vier Kilometer wollten nicht vor der Zeit abdanken. Eine Stunde war noch. Mindestens.
Der Weg durchs Penickental erwies sich noch einigermaßen erträglich. Ab Wöllnitz hatten wir dann wieder Asphalt unter unseren durchnässten Schuhen. Lars steckte es wortlos weg. Ich biss die Zähne zusammen.
Die Erinnerung ist schon manchmal ein arger Schalk. Hinter jeder Straßenecke vermutete ich den USV-Sportplatz. Ich weiß nicht mehr, wie oft ich mir sicher war.
Das Warum-Scheißerchen ningelte auch schon wieder. Auch die anderen Macken und Fimmel, die während der letzte 24 Stunden meine Stimmung hoch und runter regelten, begehrten noch einmal Aufmerksamkeit. Nicht eine Laune konnte ich beim Wandern abschütteln. Von wegen Seelenreinigung.
Letztendlich haben sie mich bis hierher begleitet, gedrängt und geführt. Fakt: Sie gehören zu mir!
Es geht doch nicht darum, etwas zu verlieren, sondern etwas zu gewinnen.
Halleluja Phrasenschwein! Du also auch noch!
Lars war stehen geblieben. Diesmal hatte ich mich nicht getäuscht: Das Tor zum USV-Gelände.
„Nie wieder!“ schworen wir uns in diesem Augenblick. Und wir meinten es so. Und wir grinsten dabei.
Alle Strapazen und Blessuren waren augenblicklich vergessen. Eitel-Sonnenschein strahlte mir aus dem Hintern. Wie gern hätte ich mir die Sekunden eingeweckt.
Am Ziel standen Katja und André und Tuti. Er hatte nach seinem Gang noch einmal dreieinhalb Stunden auf uns gewartet. Ohne Worte.
Mehrfach hatte ich mir während des Marschs Zielgeradenschwärmereien angehört. Nur so viel: Wir ließen uns Zeit. Viel Zeit. Obwohl die Freunde mit Bierflaschen winkten.
PS I: Auf der Rückfahrt sorgte ich mit dem Vorschlag, noch ein Kneipchen in Erfurt aufzusuchen, für Amüsement. Kurz darauf: Blitzschlaf.
PS II: Am 29. Mai 2015 verläuft die Horizontale in die entgegengesetzte Richtung. Ich werde mir den Gang schenken. Ein Anlass findet sich. Tutti und Lars, erwiderten diesbezüglich auf meine vorsichtige Frage, dumme Frage.
PS III: Das letzte Wort gilt allen Organisatoren und Helfern der Horizontale: Danke!
Tja, vielen Dank für dieses Kopfkino, dass deine Worte auslösen…Ich habe fast verdrängt, wie sich diese Wanderung angefühlt hat. Doch was heisst hier “Ich werde mir den Gang schenken”? Willst du uns hiermit sagen, dass du am 29. Mai 2015 nicht mitgehst? Mein lieber Freund, darüber sollten wir nochmal reden.…